- Medizinnobelpreis 1987: Susumu Tonegawa
- Medizinnobelpreis 1987: Susumu TonegawaDer japanische Molekularbiologe erhielt den Nobelpreis für die Erforschung der genetischen Grundlagen der Antikörpervielfalt.Susumu Tonegawa, * Nagoya (Japan) 5. 9. 1939; 1968 Promotion, 1971-81 Forschungstätigkeit am Institut für Immunologie in Basel, seit 1981 Professor am Krebsforschungszentrum des Massachusetts Institute of Technology in Cambridge bei Boston; beschäftigte sich mit den Ursachen der Antikörpervielfalt und der Genetik der T-Zellen des Abwehrsystems.Würdigung der preisgekrönten LeistungAntikörper nennen Wissenschaftler die hochspezialisierten Proteine, die im Körper schädliche Parasiten und Infektionskrankheiten erkennen. Da es sehr viele verschiedene Krankheitserreger gibt, bildet das Immunsystem eines Menschen bis zu 100 Milliarden verschiedene Antikörper. Im Erbgut besteht eine korrekte Vorlage für einen einzigen Antikörper aus mindestens 2000 Bausteinen, den Nucleotiden. Wenigstens 200 000 Milliarden Nucleotide Speicherplatz benötigt demnach die faszinierende Vielfalt der Antikörper. Insgesamt aber besitzt die gesamte Erbinformation des Menschen gerade einmal drei Milliarden Bausteine, die als Vorlage für vielleicht 100 000 verschiedene Proteine dienen. Bestenfalls ein gutes Tausendstel Prozent aller Antikörper könnte demnach im Genom verschlüsselt sein. Dieses Dilemma der Immunbiologen konnte Susumu Tonegawa ab dem Jahr 1976 lösen.Schwere und leichte KettenAls Tonegawa mit seinen Untersuchungen begann, war längst bekannt, dass Antikörper aus zwei größeren und zwei kleineren Proteinen aufgebaut sind. Jedes Protein besteht aus einer Kette von Aminosäuren, deshalb sprechen Immunologen von schweren und leichten Ketten. An einem Ende der Kette ist die Reihenfolge der Aminosäuren in den verschiedenen Antikörpern identisch. Am anderen Ende aber unterscheidet sich die Sequenz von Antikörper zu Antikörper. Immunologen sprechen daher von konstanten und variablen Regionen. Der variable Teil ist für das Erkennen von Krankheitserregern und Parasiten zuständig — seine Vielfalt entspricht daher der Vielfalt der gefährlichen Keime. Der konstante Teil muss dagegen einheitlich sein — schließlich enthält er Informationen über die komplizierten Reaktionen des Immunsystems, die im Prinzip für alle Erreger nach einem ähnlichen Schema ablaufen. Aber wie kommt die enorme Vielfalt des variablen Teils zustande?Einen ersten Hinweis fand Susumu Tonegawa 1976 bei Mäusen, als er erstmals mithilfe der damals brandneuen gentechnologischen Methoden die Erbinformation für einen Antikörper analysierte: Während der Entwicklung eines Embryos zu einer erwachsenen Maus wird das Erbgut irgendwie umgebaut, lautete sein Befund, der bei vielen Wissenschaftlern zunächst auf massive Skepsis stieß. Behauptete Tonegawa doch nichts anderes, als dass sich der Informationsspeicher eines Säugetiers im Lauf der Entwicklung verändert. Bisher hatte man angenommen, er bliebe von der Zeugung bis zum Tod gleich.Voneinander getrennte Teile der Erbanlagen für die Antikörper aber rücken während der Entwicklung eines Mausembryos näher zusammen, stellte der japanische Wissenschafter fest, der damals am Institut für Immunologie in Basel bei Niels Jerne (Nobelpreis 1984) forschte. Im Lauf der Jahre fanden der Japaner sowie die Amerikaner Phil Leder und Leroy Hood (deren Nichtberücksichtigung im Jahr 1987 dem Nobelpreiskomitee einige Kritik eintrug) Schritt für Schritt Folgendes heraus: Das Erbgut der Antikörper ist eben keine komplette Sequenz, sondern besteht aus mehreren Fragmenten.Eine ähnliche Stückelung entdeckten nahezu zeitgleich Phil Sharp und Richard Roberts (Nobelpreis 1993) für praktisch alle Erbanlagen in höheren Organismen: Normalerweise besteht das Erbgut für ein Protein aus mehreren Stücken (Exons), die durch Abschnitte ohne Information (Introns) unterbrochen werden. Komplett wird diese Sequenz in eine RNA genannte Kopie umgeschrieben, aus der anschließend die nicht benötigten Introns herausgeschnitten werden. Ganz anders dagegen die Vorgänge bei der Bildung von Antikörpern: Hier sucht sich der Organismus anscheinend zufällig aus einer Vielzahl von Teilen einzelne aus und kombiniert sie zu einem neuen Gen für einen Antikörper. Erst dieses Gen wird anschließend in RNA kopiert.Die enorme Vielfalt der AntikörperBei den Antikörpern der Maus wissen die Forscher heute Genaueres über die Vielfalt, die aus diesen Kombinationen entsteht: In den Erbinformationen für die leichte »Kappa-Kette« gibt es rund 250 so genannte »V-Segmente« und vier »J-Segmente«, die beliebig miteinander zum variablen Teil der Kette verknüpft werden können. Aus 254 Teilen entstehen so 1000 verschiedene leichte Kappa-Ketten. Für die schwere Kette dagegen existieren zwischen 200 und 1000 »V-Segmente«, 15 »D-Segmente« und 4 »J-Segmente«, die ebenfalls beliebig zum variablen Teil kombiniert werden. Rechnet man der Einfachkeit halber mit 400 V-Segmenten, entstehen aus 419 Teilen 24 000 schwere Ketten. Da leichte und schwere Ketten beliebig miteinander kombinieren können, ergeben sich theoretisch aus 673 Einzelteilen rund 24 Millionen Antikörper.In der Praxis ist die Vielfalt sogar noch größer, da die einzelnen Segmente nicht exakt, sondern relativ ungenau miteinander verknüpft werden. Manchmal fehlen kleine Teile der V-, D- oder J-Segmente, manchmal werden sogar zusätzlich einzelne Nucleotide eingeschoben. Diese Ungenauigkeit erhöht die Vielfalt sowohl bei den leichten als auch bei den schweren Ketten um den Faktor 100. Da die Ketten beliebig miteinander kombinieren, erhöht sich so die Zahl der möglichen Antikörper um den Faktor 10 000 (100 mal 100) von 24 Millionen auf 240 Milliarden. Die eigentlich fertigen Antikörpergene verändern sich durch zufällige Mutationen in der Zelle viel häufiger als andere Erbanlagen. Dadurch erhöht sich die Variabilität noch einmal. Aus rund 673 Einzelteilen entstehen daher weit mehr als die benötigten 100 Milliarden Antikörper.Susumu Tonegawa war auch an der Aufklärung der Struktur der Gene für den konstanten Teil der schweren Ketten beteiligt. Sie steuern die genaue Funktion der Immunabwehr und sind daher im Prinzip weitgehend einheitlich. Allerdings gibt es fünf verschiedene Klassen schwerer Ketten. Die daraus gebildeten Antikörper erfüllen unterschiedliche Aufgaben bei der Abwehr von Infektionen. So ist die Klasse der E-Antikörper (IgE) vor allem für die Abwehr von Wurminfektionen zuständig. Ähnlich wie Antikörper bilden sich auch die anderen wichtigen Erkennungsproteine des Immunsystems, die T-Zell-Rezeptoren, durch Kombination verschiedener Segmente. Auch an deren Analyse war Tonegawa beteiligt. Seine Arbeit erklärt also einen wesentlichen Teil der Funktion der Immunabwehr und ermöglicht daher, neue Methoden zur Bekämpfung von Infektionen zu entwickeln.R. Knauer, K. Viering
Universal-Lexikon. 2012.